Nioghalvfjerdsfjorden-Gletscher (79°Nord-Gletscher) Foto: Lars Gruebner
Nioghalvfjerdsfjorden-Gletscher (79°Nord-Gletscher) Foto: Lars Gruebner

Der Nioghalvfjerdsfjorden-Gletscher – auch bekannt als 79°Nord-Gletscher – an der Nordostküste Grönlands fließt direkt in einen Fjord und bildet dort eine 80 Kilometer lange Zunge aus schwimmendem Eis. In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Gletscherzunge zwar kaum kürzer, dafür aber immer dünner. Ein Studienteam des Alfred-Wegener-Instituts kann nun erklären, warum. Mithilfe eines Computermodells konnten sie zeigen, dass warmes Wasser aus dem Atlantik in das Europäische Nordmeer und schließlich in die Kaverne unter der Gletscherzunge strömt und das Eis dort von unten schmilzt. Die nun im Fachmagazin Nature Communications veröffentlichten Erkenntnisse legen die Basis für genauere Prognosen zur Zukunft des grönländischen Eisschildes und zum weiteren Anstieg des globalen Meeresspiegels als Folge der globalen Erwärmung.

Der gigantische Eisschild auf Grönland beinhaltet fast 3 Millionen Kubikkilometer Wasser. Ein komplettes Abschmelzen dieser enormen Menge hätte einen Anstieg des globalen Meeresspiegels um mehr als 7 Meter zur Folge. Ein Teil des Eisschildes – der Nordostgrönländische Eisstrom – speist zwei mächtige marine Auslassgletscher an der Küste: den Nioghalvfjerdsfjorden-Gletscher (auch bekannt als 79NG) sowie den Zachariæ Isstrøm (kurz ZI). Beide Gletscher fließen hier in die Grönlandsee und bildeten noch vor zwanzig Jahren zwei gigantische schwimmende Gletschereis-Zungen auf dem Küstenmeer. Doch während der ZI-Gletscher seine schwimmende Zunge bereits in den 2010er Jahren verloren hat, schiebt sich das Eis des 79NG auch heute noch auf einer Breite von 20 Kilometern rund 80 Kilometer weit durch einen Fjord in Richtung Meer.

Warum ist diese heute größte schwimmende Eiszunge Grönlands – scheinbar – so stabil? Und welche Faktoren bestimmen ihr weiteres Schicksal? „Die Gletscherzunge des 79NG wird durch ihre Umgebung geschützt. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Topographie des Fjords und seines Meeresbodens sowie einige Inseln an der Kalbungsfront, die wie Ankerpunkte wirken“, erklärt Claudia Wekerle, physikalische Ozeanographin am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). „Aus vorangegangenen Studien wissen wir aber, dass das Eis etwa zwischen 1999 und 2014 rund 30 Prozent seiner Dicke verloren hat, weil sich – so die Vermutungen – die Schmelzraten an der Unterseite durch warmes Wasser stark erhöht haben.“ Für die Gletscherkaverne unter dem Eis gab es bisher jedoch nur vereinzelte Punktmessungen der Strömung und der Ozeantemperatur in der Kaverne unter dem Eis. „Mit unserem hochaufgelösten Ozeanmodell konnten wir nun zum ersten Mal Aussagen über die Wasserströmungen in der Kaverne treffen.“

Warmes Wasser strömt aus dem Atlantik in die Kaverne unter der Gletscherzunge und lässt das Eis dort von unten schmelzen. Grafik: AWI / Martin Künstig / CC-BY 4.0
Warmes Wasser strömt aus dem Atlantik in die Kaverne unter der Gletscherzunge und lässt das Eis dort von unten schmelzen. Grafik: AWI / Martin Künstig / CC-BY 4.0

Das Forschungsteam um Studienerstautorin Claudia Wekerle setzte dafür das am AWI entwickelte Ozeanmodell FESOM2 (Finite-Element/volumE Sea ice-Ocean Model) ein. Die Stärke von FESOM2: Es kann auch kleinere Meeresgebiete von besonderem Interesse gezielt hoch auflösen und so realistischer darstellen – in diesem Fall die Kaverne unter der 79NG-Eiszunge. Für ihre Ergebnisse hat das Team die Auflösung des Models bis auf 700 Meter für die Kaverne und die nähere Umgebung erhöht. „Zum Vergleich: Die Auflösung in unserem hochaufgelösten Arktismodell beträgt 4,5 Kilometer und die typische Auflösung von Ozeanmodellen liegt bei etwa 25 Kilometer oder noch gröber.“ Durch die hohe Auflösung kann FESOM2 die Topographie des Gletschers korrekt wiedergeben. Das ist besonders für den Einstrom des warmen Atlantikwassers wichtig, das durch einen etwa fünf Kilometer breiten Graben in die Kaverne fließt.

„Mit unserem Modell konnten wir die Ursache für die hohen Schmelzraten an der Unterseite der schwimmenden Gletscherzunge bestimmen“, sagt die AWI-Forscherin. „Zwei Faktoren spielen dabei eine Rolle.“ Zum einen trat als Folge der globalen Erwärmung in den letzten Dekaden vermehrt Oberflächenschmelzwasser auf dem Grönländischen Eisschild auf, das durch den Eispanzer sickert. Ein Teil dieses Süßwassers fließt zur Aufsetzlinie des Gletschers – also dort, wo das Eis die Bodenberührung verliert und zu schwimmen beginnt – und strömt als subglazialer Einstrom unter dem Gletscher in die Kaverne. „Hier verstärkt es die Zirkulation des Wassers innerhalb der Kaverne und erhöht somit den Kontakt zum Wasser und damit das Schmelzen an der Eisunterseite.“ Zum anderen hat sich in den letzten Dekaden die Temperatur in der Atlantikwasserschicht auf dem Nordost-grönländischen Kontinentalschelf insgesamt erhöht. Dieses relativ warme Wasser hat seinen Ursprung im Atlantik, strömt dann durch das Nordpolarmeer, zirkuliert westwärts in der Framstraße und erreicht dann den Nordost-grönländischen Kontinentalschelf und schließlich den 79NG. Durch einen Graben an der Kalbungsfront fließt das relativ warme Wasser in die Kaverne und schmilzt die Unterseite der Gletscherzunge. „Unsere Studie hat ergeben, dass vor allem die höheren Ozeantemperaturen in der Atlantikwasserschicht die Schmelzraten bestimmen und nicht so sehr der erhöhte subglaziale Einstrom von Schmelzwasser.“

Dank dieser Erkenntnisse können die Forschenden nun den nächsten Schritt machen: In weiteren Simulationen wollen sie die künftige Entwicklung des 79NG in verschiedenen Klimaszenarien prognostizieren. Klar ist dabei schon jetzt: Verschwindet die Gletscherzunge ganz, hätte dies wohl auch tiefgreifende Auswirkungen auf die Stabilität des dahinterliegenden Festlandeises und die weiter steigenden Pegel der Ozeane. Denn schon heute fließt der Nordostgrönländische Eisstrom an Land deutlich schneller in Richtung Meer als noch vor einigen Jahren. Und dies – so zeigt es eine Studie von 2022 – ist eine direkte Folge der verschwundenen Gletscherzunge des Zachariæ Isstrøm südlich des 79NG. „Deshalb ist es für verlässliche Zukunftsprognosen zum Meeresspiegelanstieg und zu anderen Folgen des Klimawandels unabdingbar, den Grönländischen Eisschild als Ganzes und die für seine weitere Entwicklung entscheidenden Kontaktregionen mit dem Ozean im Detail im Blick zu behalten und genau zu verstehen“, sagt Claudia Wekerle. „Und eine dieser Schlüsselregionen ist der 79°Nord Gletscher an der Nordostküste der Insel.“

Alfred-Wegener-Institut (AWI) Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung
www.awi.de