Von Sebastian Tilch. Äußerst leise und von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt haben die Vereinten Nationen im Januar dieses Jahres den ersten globalen Zustandsbericht der Ozeane verabschiedet: das World Ocean Assessment. Dabei hätte ein Projekt der UNO dieser Größe und Laufzeit wesentlich größere Wellen schlagen müssen. Immerhin haben mehrere Hundert Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit auf über 1700 Seiten ehrenamtlich den aktuellen Wissensstand zu den drängenden Umweltthemen im Meeresbereich zusammengetragen. Der Bericht soll auch Grundlage für Teile des globalen Assessments des Weltbiodiversitätsrates IPBES sein. Doch um tatsächliche politische Prioritäten im globalen Meeresschutz setzen zu können, reicht seine inhaltliche Substanz nicht aus, kritisieren Experten.
„Die gesammelten Erkenntnisse des Berichtes machen deutlich, dass die Ozeane und Meere der Welt an ihren Grenzen der Belastung sind.“, schreibt der Auftraggeber UN-Generalsekretär Ban Ki-moon im Vorwort des Berichtes. Es würde klar, dass dringend globale Maßnahmen zum Schutz gegen die verschiedenen Belastungen, denen sie ausgesetzt sind, eingeleitet werden müssten. Dabei solle das im Bericht gesammelte Wissen helfen.
Hunderte von Wissenschaftlern aus allen Erdteilen, fünf davon aus Deutschland, trugen unentgeltlich das Wissen aus Tausenden von Studien zusammen. Herausgekommen ist ein Mammutwerk von über 1700 Seiten in 55 Kapiteln, das neben dem Zustand der Meeresökosysteme und deren Leistungen, die die Menschen nutzen, die negativen menschlichen Einflüsse und deren Auswirkungen vor allem auf die Nahrungssicherung darstellt. Damit orientiert sich der Bericht an den erst kürzlich beschlossenen Nachhaltigen Entwicklungszielen der UN (SDGs), in dessen 14. Ziel explizit die nachhaltige Bewirtschaftung und die Reduktion der Belastungen der Meere formuliert sind.
Um die Bedeutung der Ozeane für den Globus und seine Bewohner zu verdeutlichen, starten die Autoren mit ein paar beeindruckenden Zahlen. Die Ozeane bedecken sieben Zehntel des Planeten. Sie sind im Schnitt 4 000 Meter tief und stellen mit 1,3 Milliarden Kubikmetern 97 Prozent des Oberflächenwassers. Bei derzeit über sieben Milliarden Weltbürgern, so rechnen die Autoren vor, stehen für jeden einzelnen rund ein Fünftel Kubikkilometer Meer zur Verfügung, die uns Leistungen erbringen, die wir meist tagtäglich in Anspruch nähmen.
Und das geht weit über die Versorgung mit Nahrung in Form von Fisch und anderen Meerestieren hinaus. Die Hälfte der globalen Sauerstoffproduktion durch Photosynthese leisten Plankton und Meerespflanzen. Im gleichen Vorgang nehmen diese über 50 Milliarden Tonnen Luftkohlenstoff jährlich auf (50 Mrd. von Phytoplankton, 3 Mrd. von größeren Wasserpflanzen). Dadurch kompensieren die Ozeane ein Drittel der jährlichen mensch-gemachten CO2-Emissionen. Außerdem sind die Meere bzw. ihr Böden Quelle von Rohstoffen und Energieträgern, sie sind hochfrequentierte Wasserstraßen und Auffangbecken für Berge von Abfall.
Doch so viel ein Fünftel Kubikkilometer auch klingt, diese Leistungen sind nicht unendlich. Unsere Lebens- und Wirtschaftsweise bringt die Meere weltweit an die Belastungsgrenzen. Dabei nennt der Bericht viele Triebkräfte, möchte dabei aber keine Hierarchie festlegen. Große Aufmerksamkeit widmet der Bericht dem Klimawandel und dessen Effekten. Diese verändern die Lebensbedingungen in allen Regionen des Planeten, besonders allerdings in Polnähe, wo die Erwärmung laut Bericht doppelt so schnell vor sich geht wie im globalen Durchschnitt. Das hat auch der Arktisforscher und Mitautor des World Ocean Assessments Prof. Dieter Piepenburg vom Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar-und Meeresforschung (AWI) auf Expeditionen in über 30 Jahren beobachten müssen: „Das Meereis wird, wie Satellitenbeobachtungen seit den 1970er Jahren demonstrieren, stetig weniger“, erzählt Piepenburg im NeFo-Interview.
Dieser Wandel sei für diese Region ökologisch wohl der wichtigste. Die Basisorganismen der Nahrungskette, die so genannten Primärproduzenten wie Algen und meereisgebundenes Phytoplankton, die das Eis als Brutstätte brauchen, haben allein in den letzten 20 Jahren mehr als zwei Millionen Quadratkilometer Lebensraum verloren. Das habe enorme Konsequenzen, auch auf die Funktion und Dynamik der unter dem Eis liegenden Lebensräume des Freiwassers (Pelagial) und Meeresbodens (Benthal).
So erfährt man in Kapitel 36g, an dem Piepenburg mitgearbeitet hat, wie die Ozeanerwärmung die marinen Nahrungsnetze durcheinander bringt, beispielsweise in dem sich die Wanderungsbewegungen des tierischen Planktons zwischen Meeresoberfläche und tieferen Wasserschichten ändern. Damit liefert der „Nährstofffahrstuhl“ immer weniger für die Arten in der Tiefe, einschließlich des Meeresbodens. Immer häufiger beginnt auch die Phytoplanktonblüte früher im Jahr und deckt sich dann nicht mehr mit den Brutzyklen des Zooplanktons, das auf diese Nahrungsquelle angewiesen ist. Dazu verdrängen Zooplanktonarten aus wärmeren Regionen heimische Arten, die Fettreserven zum Überwintern anlegen. Deren Ausfall führt zu einem Fettmangel in der gesamten Nahrungspyramide bis hinauf zum Eisbären
Neben dem Klimawandel belastet die Meere laut Bericht die Überfischung. Rund ein Viertel der weltweiten Fischbestände sind überfischt. Dazu kommen die zunehmende Nutzung und damit auch Störung der Meere zur Rohstoff- und Energiegewinnung und Verunreinigungen durch Müll und Nährstoffen aus der Landwirtschaft, die zu wachsenden Sauerstoffmangelzonen vor den Küsten führen.
Wer sich tatsächlich die Mühe macht, das Mammutwerk durchzulesen, merkt allerdings recht schnell: Konkrete Zahlen, Einordnungen und Gewichtungen muss man mühsam suchen. An vielen Stellen liest es sich eher wie eine Zusammenstellung darüber, was die Forschung alles gemacht hat, statt konkrete Ergebnisse zu nennen, einzuordnen und damit echte Hilfsmittel bei der Prioritätensetzung zu liefern.
„Unter einem Assessment verstehe ich etwas anderes, nämlich eine Abschätzung, nicht nur Beschreibungen.“, kritisiert auch Prof. Julian Gutt, ebenfalls vom AWI. Der Bericht bleibe durch das gesamte Dokument hindurch auf der beschreibenden Ebene. „Die Biodiversität steht unter dem Einfluss des Klimawandels oder der Ozeannutzung: das ist eine rein qualitative Aussage. In den entscheidenden Passagen fehlen einfach harte quantitative Fakten, etwa zur Beantwortung der Frage, wie weit das Artensterben im Meer vorangeschritten ist.“ Das mache den Bericht sicherlich leicht politisch akzeptierbar, aber er beantworte keine gesellschaftlich relevanten Fragen.
Nun gebe es, müsse man fairerweise sagen, ja gerade im marinen Bereich oft solche Zahlen noch gar nicht, meint Gutt. Gerade die Organismen in der Tiefsee sind laut Experten weniger bekannt als viele Planeten im Weltall. Auch über die mikrobielle Fauna ist unser Wissen noch sehr lückenhaft. „Konkrete Zahlen erwarte ich aber dennoch bei einem World Ocean Assessment“, meint Gutt. „Da muss man dann eben auch mal langfristig und großflächig zählen und messen und nicht nur modernen Themen hinterher laufen. Aber das wollen die Länder ja nicht bezahlen.“
In der Politik hat man von dem Assessment entsprechend wenig Notiz genommen. „Grundsätzlich hilft das Erscheinen solcher Berichte durchaus, um Umweltthemen auf die politische Agenda zu rufen und Aktivitäten voranzubringen.“, meint Kathrin Blaufuß, Referentin für Biodiversität in der Bundestagsfraktion der Grünen. Im Falle des World Ocean Assessment sei dies leider völlig verpufft, so leise wie es herausgegeben wurde. Aber auch die Inhalte machen den Bericht nicht zu einem wirklichen Arbeitsdokument für die politische Arbeit. „Ich habe aus Zeitgründen nur die Zusammenfassung gelesen, und die ist ja schon 50 Seiten stark“, erzählt Blaufuß. Die habe aber auch wenig Neues enthalten. Der einzige Mehrwehrt bestünde darin, dass hier in einem Rundumschlag alle Themen zusammengeführt worden seien, was sonst eher sektoral behandelt würde, also Klimafragen vom IPCC etc.
Allerdings liefere der Bericht auch kaum Anknüpfungspunkte an die Politik. „Hier fehlt es an Übersetzungsleistung, die kann ich aus Zeitgründen bei der Fülle an Themen gar nicht leisten.“ Dass man auf konkrete Handlungsempfehlungen verzichtet hat, kann Kathrin Blaufuß verstehen, da diese schwer zu verhandeln seien. Hilfreich für die politische Arbeit seien sie aber allemal. Dies mache auch die Positionspapiere von Verbänden attraktiver.
Dass es aber auch konkreter gehe, beweisen laut Gutt und Blaufuß beispielsweise die Berichte des IPCC. Hier sei das Wissen überwiegend gut aufgearbeitet worden. „So würde ich mir das auch beispielsweise für gut untersuchte Organismengruppen wie Fische wünschen, bei denen durchaus bekannt ist, wie viele Bestände vorm Zusammenbruch stehen und wodurch“, meint Gutt. “Und dann müsste man Beispiele nennen, wo ein wirksames Management greift, und die Gründe und Methoden dafür nennen. Das sollte eigentlich in diesem Bericht stehen.“
Tatsächlich ist man zumindest auf globaler politischer Ebene schon weiter. So empfiehlt die wissenschaftliche Vorbereitungskonferenz der UN-Biodiversitätskonvention (CBD) ihrer Vollversammlung CBD-COP13 im Dezember beispielsweise „Maßnahmen zu ergreifen, die schädliche Effekte durch Fremdkörper in marinen und Küstenzonen auf Biodiversität verhindern oder vermindern – unter Berücksichtigung der freiwilligen Leitlinien“ (siehe NeFo-Bericht CBD SBSTTA 20). Welche Maßnahmen hierfür in Frage kämen, etwa eine konsequentere Düngemittelverordnung oder bessere Kontrollen von Müllverklappung der Schifffahrt, sowie eine Abschätzungen zur Wirksamkeit für eine Priorisierung der Maßnahmen und Politikinstrumente wären an solcher Stelle hilfreich und sind ja durchaus Fragestellungen der Forschung. Das World Ocean Assessment hilft an dieser Stelle jedoch nicht weiter.
„Ich gebe Ihnen grundsätzlich recht, dass aufbauend auf dem schon jetzt vorhandenem Wissen über die Zusammenhänge dringend politische Ziele und Optionen formuliert – und diese vor allem auch global wie regional durchgesetzt werden – müssten“, meint Mitautor Dieter Piepenburg. Manchmal klappe das ja auch, etwa auf dem Klimagipfel 2015 in Paris, wo sich alle Mitgliedstaten der UN-Klimarahmenkonvention auf die konkrete Obergrenze einer globalen Erwärmung von höchstens 2°C einigten. Die Frage sei allerdings, ob im Hinblick auf die Ozeane der erste WOA-Bericht dafür eine geeignete Plattform dargestellt hätte. Alles in allem glaube ich aber, dass der von den Leitautoren beabsichtigte Hauptzweck – eine wissenschaftlich fundierte und umfassende Bestandsaufnahme des Wissensstands zu liefern – erreicht worden ist.
Das World Ocean Assessment wird im Übrigen die Grundlage für die Beiträge zur marinen Biodiversität im Globalen Assessment von IPBES sein, das 2019 vorliegen soll. Handlungsoptionen für die Politik sind hier allerdings ausdrücklicher Bestandteil. Hier besteht also noch Bedarf zur Nachjustierung.
Und um am internationalen Tag der Meere aber allgemein über ihren Zustand zu berichten und ein öffentliches Bewusstsein für unsere Verantwortung zu schaffen, reicht der Bericht auch in der jetzigen Form aus. Selbst wenn das nicht in der Absichtserklärung des UN-Generalsekretärs steht. Bleibt nur, dass ihn auch jemand lesen muss. Und dafür könnte man diesen Tag ja nutzen.
[DE] 06. Juni 2016 –Netzwerk-Forum zur Biodiversitäsforschung Deutschland (NeFo)
www.biodiversity.de